Wo Wege Geschichten flüstern
Einatmen. Ausatmen. Alles scheint weiter weg zu sein – der Alltag, der Lärm, die Eile. Auf nur 160 Quadratkilometern versteckt sich zwischen der Schweiz und Österreich ein kleines Land: Liechtenstein. Links der Rhein, rechts die schroffen Gipfel der Zentralalpen. Und dazwischen liegt ein Wanderparadies, das sich überraschend groß anfühlt. Das Fürstentum zeigt, dass nicht die Fläche zählt, sondern die Erlebnisse.

Wer Liechtenstein verstehen will, muss es erwandern. Am besten auf dem Liechtenstein-Weg, einem 75 Kilometer langen Band, das sich durch alle elf Gemeinden zieht. Mal durch Wald, mal durch Dörfer, mal mit Blick auf die Berge, die sich über 2.500 Meter hoch über das Land erheben. Besonders der Grauspitz sticht heraus – 2.599 Meter misst der höchste Punkt des Zwergstaates. Sein Doppelgipfel scheint die Wolken zu berühren. Das Alpenpanorama begleitet einen wie ein stiller Freund. Wer hier unterwegs ist, kommt zur Ruhe – und zu sich selbst.
Rund 400 Kilometer Wanderwege – das ist europäische Spitze. Während viele sofort an die Klassiker Schweiz oder Österreich denken, liegt das wahre Wander-Juwel mittendrin. Wer tiefer eintauchen will, wählt den Historischen Höhenweg. Auf rund 16 Kilometern führt er durch stille Wälder und vorbei an prähistorischen Siedlungsplätzen, über sanfte Hügelrücken bis zur Burgruine Schellenberg. 45 Informationstafeln erzählen von archäologischen Funden, alten Sagen und der bewegten Geschichte des Nordens. Immer wieder öffnen sich dabei herrliche Ausblicke ins Rheintal – und hinüber zur österreichischen Grenze.
In den Gasthäusern lockt die regionale Küche: feine Käsespezialitäten, würzige Gerichte mit Kräutern aus den Bergen, alpine Klassiker mit moderner Note. Und immer wieder: Preiselbeeren.
Menschen, die prägen
Wer Liechtenstein zu Fuß entdeckt, merkt bald: Die Schönheit der Landschaft ist nur der Anfang. Es sind die Begegnungen, die bleiben. In den Dörfern trifft man Menschen, die sofort ins Gespräch kommen – herzlich, offen und mit echtem Interesse. Die Liechtensteinerinnen und Liechtensteiner empfangen Gäste nicht nur mit einem Lächeln, sondern mit ehrlicher Gastfreundschaft. Man spürt: Hier gehört das „Hoi“ genauso zur Kultur wie das alpine Panorama. In einer Welt, in der vieles anonym geworden ist, tut es gut, an einem Ort zu sein, wo Nähe noch zählt – und wo das Gegenüber nicht fremd bleibt. Hier trifft man auf Menschen, die ihren Wurzeln treu geblieben sind und dennoch offen in die Zukunft blicken. Handwerker, Winzerinnen, Künstler, Gastgeber. Sie erzählen Geschichten, die man nicht googeln kann. Vom Leben im Einklang mit der Natur. Vom Stolz auf das, was man hat und nicht braucht. Vom Bewahren und Weiterentwickeln. In jedem Gespräch steckt ein Stück Heimatliebe, in jedem Blick ein Funke Zufriedenheit.
Autorin der Artikelreihe: Jasmin Lutz

Spuren im Staub
Marianne Lörcher, Burg Gutenberg
Wenn Marianne Lörcher durch die altehrwürdigen Mauern der Burg Gutenberg führt, lauscht man nicht nur der Geschichte – man begegnet ihr. Mit leuchtenden Augen und spürbarer Leidenschaft erzählt sie von Rittern, Reliquien und weltberühmten Funden. Doch mindestens genauso spannend ist ihre eigene Geschichte.
An jenem lauen Mainachmittag ziehen die Vögel ihre Kreise am wolkenfreien Himmel. Über Nacht kletterten die Temperaturen auf 20 Grad, nur ein leichter Wind streicht durch das Gras und trägt das Läuten der Kirchglocken aus dem Tal herauf. Weinreben säumen den Pfad, der hinauf zur hochmittelalterlichen Burg Gutenberg führt. Oben wartet bereits eine Dame mit silbergrauem Haar, deren Ausstrahlung pure Lebensfreude versprüht. Das leuchtende Pink ihrer Kleidung bildet einen lebhaften Kontrast zum satten Grün der Blumenwiese. Fest umklammert hält sie in ihren Händen mehrere großformatige Schwarzweißfotografien – alte Aufnahmen und historische Karten.

Selbstbewusst stellt sie sich vor: Marianne Lörcher, gebürtig aus Zürich, wohnhaft in Liechtenstein. Noch in diesem Jahr feiert sie ihren 80. Geburtstag – kaum zu glauben, wenn man sie sieht. Vital, geistreich und voller Neugier. Acht Jahrzehnte voller Freude und schicksalshaften Erlebnissen. Zeit ihres Lebens hat sie sich weitergebildet, fünf Ausbildungen gemacht. Ihr akademischer Weg führte sie zunächst in die Naturwissenschaften – mit Schwerpunkt Anthropologie. Und doch wurde aus dem analytischen Blick auf Knochen irgendwann eine tiefe Verbindung zum Menschen. „Als Kind habe ich die Tiere lieber gehabt als den Menschen“, sagt sie mit einem Lachen. „Und ganz allmählich habe ich mich dem Menschen angenähert – über das Skelett. Ganz vorsichtig, aber sehr intensiv.“ Heute beschäftigt sie sich mit Körper, Geist und Seele gleichermaßen. Vor rund 20 Jahren ließ sie sich zusätzlich in Jin Shin Jyutsu ausbilden – einer alten, japanischen Heilkunst. „Für mich ist es eine Möglichkeit, mir selbst zu helfen, indem ich mir Zuwendung gebe, meine inneren Selbstheilungskräfte aktiviere und dadurch schauen kann, dass es mir gut geht.“ Noch heute praktiziert sie in ihrer Praxis.

Wenn Knochen Geschichten erzählen
Als Anthropologin arbeitete sie eng mit der Archäologie Liechtensteins zusammen – etwa beim Bau eines Weinbergs unterhalb der Burg, wo beim Aushub eisenzeitliche Brandgräber entdeckt wurden. „Die Anthropologie kommt immer dann zum Zug, wenn Skelette vorkommen“, erklärt sie. „Zusammen mit der Archäologie versuchen wir dann ein Lebensbild der Menschen zu rekonstruieren – aus Zeiten, von denen es keine schriftlichen Quellen gibt.“ Solche Funde sind keine Seltenheit in dieser Region. Das Fürstentum Liechtenstein weist aus jeder Zeitepoche Funde auf. Warum? Laut Marianne Lörcher steckt da ein einfacher Grund dahinter. „Schon immer war es eine Hauptstraße, die sich durch das Land zieht. Die Menschen mussten zwangsläufig diese Wege passieren.“ Und so ist es kein Wunder, warum Liechtenstein so einen Reichtum an historischen Funden aufweisen kann. Zudem müssen alle Baugesuche über den Tisch der Archäologie. „Die Archäologen stehen beim Aushub wirklich neben dem Bagger“, sagt Lörcher. Denn alles, was tiefer als 30 Zentimeter liegt, gehört dem Staat – und könnte ein Schatz aus der Vorzeit sein.
Ein Tausendsassa rettet die Burg
Die Burg selbst, die heute so majestätisch auf dem Hügel thront, wurde im 12. Jahrhundert errichtet. Über 500 Jahre lang residierten hier die Habsburger – bis sie sich im 19. Jahrhundert zurückzogen und die Anlage dem Verfall überließen. Die Bewohner von Balzers nutzten die Gelegenheit: „Die Leute sind auf den Hügel geklettert und haben sich die Steine geholt, um ihre Häuser zu renovieren“, erzählt Lörcher und schmunzelt. „Recycling ist das.“
Zwischen 1905 und 1912 wurde die verfallene Ruine schließlich wieder aufgebaut – vom Vaduzer Architekten, Künstler und Bildhauer Egon Rheinberger. Für 1000 Kronen erwarb er die Burg von Fürst Johann II. und baute sie im Stil des Historismus wieder auf – mit viel Liebe zum Detail, aber auch mit künstlerischer Freiheit. „Egon Rheinberger war ein Tausendsassa. Er konnte alles“, sagt Lörcher anerkennend.
Er rekonstruierte die alten Grundrisse, errichtete Mauern neu, legte einen Rosengarten an und baute sogar eine Kapelle. Die Familie Rheinberger zog 1912 ein – zunächst nur über die Sommermonate, später ganzjährig. 1920 eröffneten Egon und seine Frau Maria eine Gastwirtschaft in der Burg, im Gartentrakt entstand wenig später eine Kegelbahn. Die Burg wurde nicht nur restauriert, sondern auch zum kulturellen Ort: 1925 war sie Schauplatz des Freilichtspiels „Der letzte Gutenberger“, 1933 drehte man hier Szenen für den deutschen Film „Wilhelm Tell“.
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