Klangvolles Erbe
Die Schellenriemen von Andreas Dengel
Ein kalter Wind schlägt uns Nieselregen ins Gesicht, während der Grünten in dicke Wolken gehüllt ist. Der Wächter des Allgäus, so nennen die Einheimischen den 1.738 Meter hohen Gipfel, steht eigentlich gut sichtbar direkt gegenüber. Doch es ist die Zeit der Viehscheide. Wenn die Hirten die Alpen verlassen, hat der Herbst schon längst Einzug gehalten. Dann ziehen häufig Nebelfetzen durch die Täler. Und nicht selten ist dabei der Klang hunderter Schellen und Glocken zu hören.

Der Viehscheid ist das größte Fest eines jeden Dorfjahres. Kapellen spielen, es wird getanzt, getrunken und gegessen. Highlight sind allerdings die prächtigen Zugschellen, die nicht selten an aufwändig geschmückten Riemen erklingen. Und wie jedes Jahr finden auch im Rettenberger Ortsteil Kranzegg ein paar neue Schellen ihre zukünftigen Besitzer. Andreas Dengel hängt hierfür die Schellen an seinen Riemen über die Schellenstange – einen hölzernen Zaunriegel. Dann beginnt das Fest.
Handarbeit – wie vor 600 Jahren
Zuvor, im nur wenige Kilometer entfernten Ortszentrum von Rettenberg. Wir stehen in einem uralten Hof, der seit 1424 in Familienbesitz ist. „Früher war das die Dorfschmiede, zusammen mit der Landwirtschaft und der Alpe oben.“ Ab 1885 konnte man hier eine Wagnerei finden, weiß Dengel zu erzählen. Und danach war der Wasserwart hier ansässig. „Die Gästevermietung kam bereits Ende 1800, aber immer im Nebenerwerb, als die Städter hier die Sommerfrische suchten.“ Das Tausendsassa-Gen hat in der Familie Dengel also tiefe Wurzeln. So verwundert es auch nicht, dass unter der tiefen Decke der Werkstatt noch ein Amboss aus dem 16. Jahrhundert, an den Wänden noch immer das Wagnerwerkzeug von anno dazumal zu finden ist.
Heute ist zwischen diesen Mauern Dengels Sattlerwerkstatt untergebracht. Und während sich draußen bereits ein kleines Verkehrschaos anbahnt – Viehscheide erfreuen sich nämlich auch bei Touristen zunehmender Beliebtheit – schwingt der Allgäuer geschickt das Halbmondmesser.
Viehscheide gibt es, seit die Hirten mit den Tieren im Sommer auf die Alpwiesen hinaufziehen, lerne ich. „Der Platz im Tal war schon damals begrenzt. Mit den Alpwiesen wartete dagegen eine gesunde und schmackhafte Mahlzeit auf die Tiere. Und damit man das Vieh dort oben auch wieder finden konnte, hat man ihnen Schellen oder eben Glocken umgebunden.“ Wer jetzt glaubt das Wort Schelle sei nur Dialekt für Glocke, der täuscht. Denn Glocken werden in ihre typische Form gegossen. Schellen dagegen sind aus Blech geschmiedet. Damit aber nicht genug: „»Bumbln« sind Schellen, die an weibliche Kurven erinnern, daher der Name. »Klöpfschellen« sind dagegen aus einem Stück geschmiedet, werden quasi gefaltet und zeigen deswegen einen eckigen Rücken. Und dann gibt es noch die »Halbschweizer«. Die ist oben eine Bumbl, hat aber das Maul einer »Klöpfschelle«. Die sind aktuell besonders beliebt bei den Hirten. Aber das ändert sich immer mal wieder.“ Ein letzter Wiegeschnitt mit dem Halbmondmesser durch das Dachsfell, so, dass nur das Leder und nicht die Haare durchtrennt werden, und wieder ist einer der unzähligen Arbeitsschritte vollbracht.
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